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Sehnsuchtsort Mittelschicht

Am 7. Februar diskutierten Ulrike Herrmann (taz), Berthold Vogel (Universität Kassel) und Jürgen Kaube (FAZ) in der Heinrich-Böll-Stiftung die Frage "Was ist los mit der Mittelschicht?". Ein Bericht über den Sehnsuchtsort der Deutschen. -> Aktuelle Artikel, Publikationen und andere Veröffentlichungen zu Sozialpolitik.

Eine der prägendsten Selbstbeschreibungen der Bundesrepublik in der Nachkriegszeit lautete so: Deutschlands Sozialstruktur ähnelt einer Zwiebel, wenige Reiche oben, wenige Arme unten. In der Mitte ein ausladender Bauch: Die Mittelschicht. Die Diagnose des Soziologen Helmut Schelsky aus den 50er Jahren, Deutschland sei eine nivellierte Mittelstandsgesellschaft, prägte lange Jahre die Debatte.

Heute hingegen herrscht viel Unsicherheit, wenn es um die Mitte der Gesellschaft geht. Worüber man genau spricht, wenn man Mittelschicht sagt, ist nicht mehr eindeutig. Unklar ist, wie viele Bürger der gesellschaftlichen Mitte überhaupt angehören. Sind es in letzter Zeit mehr geworden oder eher weniger? Die Meinungen gehen auseinander. In der ZEIT bedauerte Elisabeth Niejahr jüngst, dass der eigentlich beste Titel für eine Publikation über die Mittelschicht bereits vergeben ist: an den Bestseller “Wer bin ich – und wenn ja, wie viele?” von Richard David Precht.

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Der Begriff Mittelschicht scheint heute eine natürliche Verbindung mit dem der Krise eingegangen zu sein. Es geht um prekäre Arbeitsverhältnisse, um die Angst vor dem sozialen Abstieg, um unsichere Perspektiven für die Kinder. Zuletzt sorgte die Diagnose des DIW für Aufsehen, dass die Mittelschicht schrumpft. Ist die nivellierte Mittelstandsgesellschaft endgültig passé?

Was ist dran an der Krise der Mittelschicht in Deutschland? Wie real sind die Befürchtungen vor dem sozialen Abrutschen? Welche Wirkung hat es, wenn die gesellschaftliche Mitte als Ziel gesellschaftlicher Aufstiegsaspirationen unattraktiv wird? Das waren die Fragen der Diskussion „Was ist los mit der Mittelschicht? Zur Krise eines Sehnsuchtsorts“, die im Rahmen der Reihe „Was ist der deutsche Traum? Bildung – Integration – Aufstieg“ am 8. Februar 2011 in der Heinrich-Böll-Stiftung stattfand.

Die Anziehungskraft der Mitte

Die Gesprächsteilnehmer stellten zunächst einen großen Drang zur Mitte fest. Die taz-Redakteurin Ulrike Herrmann, der Kasseler Soziologe Berthold Vogel und der FAZ-Journalist Jürgen Kaube waren sich einig, dass man ohne Übertreibung sagen kann, dass sich eigentlich alle Deutschen der Mitte zugehörig fühlen. Ulrike Herrmann verwies auf Zahlen des Statistischen Bundesamts. Befragt, wo sie sich auf einer Skala von 1= „sehr arm“ bis 10= „sehr reich“ einordnen würden, sehen sich selbst ungelernte Arbeiter durchschnittlich bei 4.6, verorten sich also fast genau in der Mitte. Spitzenmanager, die man am oberen Ende der Skala vermuten sollte, schätzen sich mit 6.6 Punkten nicht viel höher ein. Die Mitte scheint in der Tat ein Sehnsuchtsort zu sein, dem man sich gerne zugehörig fühlt.

Die Mitte – ein Wimmelbild

Auch wenn – oder gerade weil – die Mitte der Gesellschaft in der subjektiven Wahrnehmung der Menschen dicht bevölkert zu sein scheint, sind Aussagen darüber, was die Mittelschicht überhaupt ist, schwierig. Für Ulrike Herrmann lässt sich die Mittelschicht statistisch klar umreißen. Sie verwies auf die Definition des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung und des Armuts- und Reichtumsberichts der Bundesregierung. Würde man alle Haushalte in Deutschland nach ihrem Nettoeinkommen aufreihen, so bezeichnet man das Einkommen des Haushalts, der genau in der Mitte steht, als Medianeinkommen. Zur Mittelschicht gehören nun alle Haushalte, die über ein Nettoeinkommen verfügen, das zwischen 70% und 150% des Medians liegt. Jürgen Kaube wies darauf hin, dass dieser Berechnung zufolge schon Singles, die 1.844 EUR im Monat haben, zur Oberschicht gehören.

Für Berthold Vogel machen in dieser Art verwendete Schichtungsbegriffe die Gesellschaft übersichtlich. Sie sind ein sinnvolles Sortierprinzip, legen aber fälschlich nahe, dass die Mitte eine homogene, abgeschlossene Gruppe sei. Die Mittelschicht sei aber ein Wimmelbild, in dem sich, wie es Jürgen Kaube pointiert ausdrückte, Profi-Eishockeyspieler und Verfassungsrichter tummeln. Vogel schlug deshalb vor, zwischen Mitte und Schicht zu unterscheiden. Die gesellschaftliche Mitte sei dabei weit mehr als eine Gruppe von Bezieherinnen und Beziehern ähnlicher Einkommen. Sie müsse vor allem als soziale Ordnungsvorstellung, als Verkörperung bestimmter Wertvorstellungen verstanden werden. Wenn die Angehörigen der Mitte etwas eine, dann in erster Linie, dass sie aufgrund ihres Einkommens aber auch wegen ihrer Bildung, beruflichen Stellung und sozialen Netzwerke über einen gewissen sozialen Optionsspielraum verfügen.

Die Frage nach der Mitte habe denn auch eine normative Dimension: Demokratien benötigten eine breite Mittelschicht – und zwar nicht wegen ihres Einkommens, sondern wegen der Haltungen, die mit den Angehörigen der Mitte verbunden sind. Sich für den Nächsten verantwortlich fühlen, sich in Vereinen engagieren, einen Familiensinn pflegen: Träger dieser Werte sei die Mittelschicht. Auch für Ulrike Herrmann ist eine stabile Mitte eine Voraussetzung für eine funktionierende Demokratie. Die Spannung zwischen dem demokratischen Prinzip, dass alle gleich sind und ökonomischer Ungleichheit dürften nicht zu groß werden.

Selbst schuld? Vom Selbstbetrug der Mittelschicht

Eine solche Zunahme von Ungleichheit ließe sich jedoch gegenwärtig beobachten, so Herrmann. Es gäbe eine Abkoppelung der Einkommensentwicklung der Mittelschicht vom Wirtschaftswachstum. Der Fahrstuhleffekt, bei dem alle nach oben fuhren, sei heute kaum mehr spürbar. Die Mehrheit verliere sogar an Realeinkommen. Rasante Aufstiege in der Einkommenshierarchie à la Michael Schumacher oder Lena Meyer-Landrut seien große Ausnahmen.

Herrmann sieht Deutschland in der historisch neuartigen Situation, dass wir einerseits große Wirtschaftsdynamik erleben und die Gesellschaft besser ausgebildet ist als je zuvor, dies aber andererseits für die Masse nicht mit einem Wachsen der Einkommen einhergeht. Darin sieht sie ein immenses Frustrationspotenzial. Mit dem wirtschaftlichen Wachstum – „jedes Jahr ein neues iPhone-Modell“ – könne das soziale nicht mithalten.

Auf die Frage, wie es denn sein könne, dass die Mittelschicht, die immerhin die Mehrheit der Bevölkerung stellt, in einer Demokratie nicht in der Lage ist, für ihre Interessen einzutreten und ihre Teilhabe am Wachstum zu sichern, erläuterte Herrmann ihre These vom Selbstbetrug der Mittelschicht. Die Mitte zähle sich selbst zur Elite des Landes, glaube an den individuellen Aufstieg und goutiere daher eine Politik, die in erster Linie den Reichen zu Gute käme: die Senkung des Spitzensteuersatzes und die Abschaffung der Erbschaftssteuer seien. Dabei verkenne die Mitte, dass Deutschland noch immer eine gespaltene Gesellschaft sei, die sich seit dem Kaiserreich wenig verändert habe. So verfügten die oberen 10% heute über 61% des Volksvermögens, die unteren 70% gerade einmal über 9%.

Aus der Mitte entspringt Verdruss

Berthold Vogel skizzierte die Nachkriegszeit als Aufstiegsgeschichte. Nachdem lange Zeit die (kleinen) Selbständigen die Mittelschicht geprägt hätten, kam es im Zuge kollektiver Aufstiegsprozesse in der Nachkriegszeit zu einer Demokratisierung der Mitte, indem technische Angestellte und die Beschäftigten im öffentlichen Dienst hinzutraten. Dieses Regime, das den Aufstieg für breite Schichten ermöglicht hatte und das mit bestimmten Formen der Erwerbsarbeit und Wohlfahrtsstaatlichkeit verbunden war, habe in letzter Zeit stark gelitten.

Die Verunsicherung der heutigen Mittelschicht sei nicht auf große ökonomische Verwerfungen zurück zu führen. Es könne keine Rede davon sein, dass die Mittelschicht verschwinde. Aber es seien feine Risse im Wohlstandsgefüge zu beobachten, die in den aggregierten Daten der Einkommensstatistik nicht aufscheinen. Es gehe – allerdings auf hohem Wohlstandsniveau –um subtile Statusbedrohungen, um Sorgen über die Zukunft der Familie, um neue Belastungen für die Bildung der Kinder und Gesundheitsaufwendungen, die den eigenen Optionsspielraum einengen.

Zwei Faktoren hätten die Möglichkeiten für den sozialen Aufstieg heute verändert. Erstens sähe Erwerbsarbeit heute anders aus als in vergangenen Tagen. Arbeit findet zunehmend in Projekten statt, durch Leiharbeit und Befristungen sind frühere Verbindlichkeiten und Karrierefestigkeiten verloren gegangen. Aufstiege fänden zwar immer noch statt, allerdings individueller, nicht mehr wie früher in Form kollektiver, tariflich abgesicherter Verfahren. Das habe Auswirkungen auf die Perspektive der Mittelschicht.

Zweitens hat sich laut Vogel das wohlfahrtsstaatliche Gefüge verändert. Dabei gehe es nicht nur um den Wohlfahrtsstaat als Sicherungssystem, sondern auch um den Wohlfahrtsstaat als Beschäftigungsfeld. Die Ausdehnung der öffentlichen Verwaltung, der Bildungseinrichtungen und der Gesundheitsdienste sei einst der Transmissionsriemen für den sozialen Aufstieg schlechthin gewesen. Die öffentlichen Dienste mit ihren Karriereleitern bestimmten lange Arbeitskultur und Vorstellungen von guter Arbeit. Heute, da die öffentlichen Dienste unter Druck geraten sind, merke die Mittelschicht wie staatsbedürftig sie eigentlich ist.

Zukunftsorientiert oder nervös und erschöpft?

Früher, so Vogel konnte man die Schichten anhand ihrer je spezifischen Zeitordnungen unterschieden. Die Unterschicht ist demnach an die unmittelbare Gegenwart gebunden, die Oberschicht lebe aus der Vergangenheit, aus den dort angehäuften Vermögen. Die Mittelschicht sei traditionell auf die Zukunft ausgerichtet, sei durch Wachstums- und Aufstiegserwartungen gekennzeichnet. Heute träfen diese Erwartungen auf Nervosität und Erschöpfung.

Auch das Podium warf abschließend einen Blick in die Zukunft. Ulrike Herrmann erwartet eine Homogenisierung der Mittelschicht und durch den demografischen Wandel eine de facto Vollbeschäftigung. Berthold Vogel war weniger optimistisch und befürchtet vielmehr, dass sich die Gesellschaft auf Schrumpfungskonflikte werde einstellen müssen. Die Antwort auf Verteilungskonflikte lautete bislang immer Wachstum, in Zukunft müssten sie auch unter Bedingungen nicht wachsender Mittel gelöst werden. Die Antwort kann nicht einfach „mehr“, sondern muss „anders“ lauten, die Stärke der Grünen läge darin, sich als einzige Partei dieser Frage zu stellen.

Siehe zum Thema auch das Blog www.wasistderdeutschetraum.de  und das Dossier "Was ist der deutsche Traum?"


Der Autor Stephan Ertner ist Referent für Bildung und Wissenschaft in der Heinrich-Böll-Stiftung. Dieser Text steht unter einer Creative Commons Lizenz (CC-BY-SA).